Vorrede.
Dieses Buch dessen Verfasser ich selbst bin habe ich aus kleinen
Betrachtungen zusammengesetzt, die größtenteils an Orten gemacht
worden sind, wo sie sonst selten gemacht werden. Ich habe sie ohne
Neid gegen irgendeine lebendige Seele aufgesetzt, wenn ich mich
hier oder da über jemanden aufhalte, so kann sich der Leser nur
zufrieden geben, ich bin es selbst und es dient ihm zur Nachricht daß
ich mich schon längst wieder mit mir abgefunden habe. Ich kann
mich nicht besinnen, daß ich jemanden nachgeahmt hätte. Nicht
Kästnern, nicht Wielanden, nicht Sternen, Shakespearen auch nicht,
die einzigen Schriftsteller, die ich einmal beneiden will wenn sich
mein Temperament zu meinem Schaden ändert und die ich nachahmen werde
wenn meine Talente zu meinem Vorteil umschlagen.
1.
Ich habe mir so oft gewünscht, daß ich ein Fleckchen finden könnte,
wo ich sicher vor dem Schwanken der Mode, der Gewohnheit und
aller Vorurteile einmal die eigene Bewegung dieses verwickelten
Systems beobachten könnte. Nur einmal von Michaelis bis Ostern,
und denn wollte ich es wagen einen Versuch über den Menschen zu
schreiben. Aber leider sind die Beobachter des Menschen übel daran,
und sie hätten ein weit größeres Recht sich über den Mangel eines
genugsam festen Standorts zu beklagen, als alle seefahrende Astronomen
und Stemgucker dieser Welt zusammengenommen. Wo wir
jetzo sind das weiß unser guter Genius, wir wissen es nicht. Muß
nicht eine Veränderung mit uns vorgegangen sein, die wir Schriftsteller
z. E. mit klaren Augen sehen, daß gut schreiben so schwer,
und schlecht zu schreiben so über alle Maßen leicht ist, ja daß
natürlich schreiben eine Kunst ist, sollte man kaum glauben wenn
(man) nicht selbst in dieser Welt lebte, wo alles dieses täglich und
noch viel drüber geschieht. Unsere Philosophen müssen das Kostüm des
natürlichen Menschen studieren, um Bücher für den
natürlichen Menschen zu schreiben, eben als wenn dieser natürliche
Mensch um 180 Grad eines größten Kreises von ihnen entfernt läge.
Der artifizielle Mensch, von dem ich fast fürchte, daß er mit dem
alten Adam besser steht als unsere Anatomen des menschlichen
Herzens sich vielleicht einbilden, hat sich in uns solche Freiheiten
über den natürlichen herausgenommen, daß ich fürchte es werde
endlich keine Sprache mehr geben, die gradezu jener hört; eine
oratorische Figur tut es nicht. Riefe ich laut aus und hätten meine
Worte den Klang der Posaune des letzten Tags: Höre, du bist ein
Mensch, so gut als Newton, oder der Amtmann oder der Superintendent,
deine Empfindungen, treulich und so gut als du kannst in
Worte gebracht, gelten auch im Rat der Menschen über Irrtum und
Wahrheit. Habe Mut zu denken, nehme Besitz von deiner Stelle!
Wenn ich so schreie, so hören mich tausend Ohren, allein unter
diesen tausenden ist doch vielleicht kaum ein Paar durch (die) der
Sinn der Worte lauter hinunterdringt, und den Punkt befruchtet und
belebt, der wenn er einmal im Menschen wirksam wird nicht selten
dasjenige aus ihm macht was wir den Denker, und mit Aktivität und
äußeren Situationen verbunden den großen, ja selbst den glücklichen
Mann nennen können. Aber ehe ich weiter schreibe, so muß ich eine
Frage an mich selbst tun. Wo habe ich diese Gedanken her, die ich
hier schreibe? Ich bin ein freier Mensch, meine Landesleute sind
ehrliche Leute, ich spreche wie ich es denke, bin ich gegen mich
selbst aufrichtig und sage mir nicht selbst Dinge nach (denn das
heiße ich so wenn man noch nicht aufgeklärte Empfindung durch
den Verstand rektifiziert und also ans Licht gibt), so kann ich mich
überall sehen lassen, ein falsches Urteil wird mir alsdann zum
Gebrechen, und nicht zum Vergehen angerechnet. Ist es Wahrheit
bei dir was du redest oder ist (es) vielleicht der Ton des Lustrums
worin du schreibst? Ich sehe tief in meine Seele hinein und ich
erkenne, der Gedanke ist ein Produkt meines Systems, nicht
eingeführt, ohnerachtet ich nicht zweifele, daß er häufig auf anderm
Boden wächst.
Ich muß in mir selbst eine Freiheit zu denken einführen, da muß
ich Herr sein oder ich bin gar keiner, ich muß sehen und hören,
vergleichen, aber nur ein Richter muß in mir sein, niemals zwei: the
whole man must move together. Aber wo ist das Eins in 90 unter
100? 90 unter 100 füllen keinen Posten in der Welt, sie sind alle ein
ausfüllendes Geschlecht das überall verschließt wo es hingestellt
wird, ohne die Empfindung der geringsten Unbequemlichkeit, es
drückt und reibt sie nichts, wo ihr Empfindungs-System nichts
Bestimmtes gibt, da helfen sie mit Glauben, Aberglauben par
complaisance und Aberglauben aus Leichtsinn nach, und haben
allzeit ein System fertig und gießen sich in jede Form. Ich weiß nicht
ob solche Leute in der Welt sein müssen, für Sammler von
Vernunftwahrheiten, zu Philosophen und eigentlichen Kritiken sind
sie nicht. Ich muß noch einmal erinnern, daß ich keine Machtsprüche tue
und wenn sie auch so klingen sollten, meine Gedanken sind
ja die Gedanken eines Menschen, insoferne trage ich sie vor zur
Betrachtung, der Philosoph, der weiß was der Mensch ist, wird bloß
die Achsel zucken, aber noch nicht spotten, wenn der gelehrte
Swedenborg schreibt der jüngste Tag sei am 9ten Jänner 1757 wirklich
gewesen, also vorbei, da er es sagt.
Lichtenberg: Sudelbücher - Heft B-316