Es ist so entsetzlich schwer den Bemerkungen der Alten über den Kopf zu wachsen. Z. E. dem Tacitus. Auch unter den Neueren dem Shakespeare, je mehr man Erfahrung bekommt, desto mehr sieht man in ihnen. Hingegen findet man das Superfeine unserer klein- städtischen Shakespeare gar leicht einfältig, wenn man in der größern Welt war. Ihre besten Bemerkungen sind zuweilen so, daß man sich an des Verfassers statt schämt auch wenn einem niemand in das Gesicht sieht. In einer Gesellschaft von schwachen Köpfen kann sich einer leicht durch Starren auf die Seite bei einer vorfallenden Frage das Ansehen eines denkenden Kopfs geben, auch durch eine affektierte Zerstreuung, und eben deswegen heißen sie schwache Köpfe, deren Urteil man drehen kann wie man will. Bei bessern Köpfen geht das nicht an, sie wissen aus der Erfahrung daß Zerstreuung in einer guten Gesellschaft, auch wenn sie nicht affektiert ist, meistens entweder das Zeichen einer Geckhaftigkeit des Geistes, oder einer zur Raserei führenden Unbändigkeit der Einbildungskraft ist. Ich glaube alle die Histörchen von Newton- und Leibniz-Zerstreuung in Gesellschaft nicht. Entsetzlich große Kompilatoren mag vielleicht das heimliche Bewußtsein ihrer Unfähigkeit bewogen haben sich durch affektierte Zerstreuung das Ansehen stark Denkender zu geben, allein der eigentliche Starkdenker (wenigstens alle die ich gekannt habe) hat gar nichts von dem, er ist gewöhnlich ganz mit seinen Gedanken auf der Sache wovon geredet wird, er unterscheidet sich gemeiniglich durch Behutsamkeit im Urteil und Zweifel und seinen Bemerkungen hört man durch die Art wie sie gesagt werden bald an daß sie nicht sowohl seiner Belesenheit sondern seinem Verstand den besten Teil zu danken haben. Sie sind immer reinlich, selten nach der neusten Mode gekleidet. So denke ich an diesem Tage, meine Erfahrung, die so ganz gering nicht ist, erlaubt mir nicht anders zu denken. Ich zweifle nicht, daß mich andere darin vermutlich übersehen, und ungleich mehrere mich zu übersehen glauben werden, aber ich allein kann meine Beobachtungen sagen. Es ist meine Stimme in dem großen Rat nach eigner Überzeugung gegeben. Ich muß noch einmal bitten sorgfältig den berühmten Gelehrten von dem großen zu unterscheiden. Ich gebe keine Beispiele, nicht etwa weil ich mich vor den berühmten Gelehrten fürchtete, die ich in Gedanken habe, sondern weil ich sehr im Ernst bin und unaufgefordert seine Gedanken öffentlich im Ernst über jemanden zu sagen, bei der großen Betrüglichkeit unsrer Beobachtung, mehr Bedenkzeit erfordert, als ich überhaupt noch Zeit zu leben habe. In einer Satire würde ich mir weniger ein Gewissen machen. Es sind verneinte Lobschriften, und man traut ihnen gewöhnlich so wenig als den bejahen den.
Lichtenberg: Sudelbücher - Heft E 367