Vermischte Einfälle, verdaut und unverdaute
Begebenheiten, die mich besonders angehn.
Auch hier und da Exzerpte, und Bemerkungen, die an
einem andern Ort genauer eingetragen
oder sonst von mir genützt sind.

Am 18. Dezember vorigen Jahres (88) starb mein vortrefflicher Meister, allein erst den 23. ward er begraben. Aus dieser vermutlich sehr frühen Verordnung leuchtet des guten Mannes Furcht hervor, die ihn sonst gegen das Ende seiner Tage verlassen zu haben schien. - Ich habe ihn sehr genau gekannt, nicht bloß, weil ich viel mit ihm umging, denn man kann sehr viel mit einem Manne umgehen und ihn doch nicht kennen lernen, sondern (es) gehört dazu ein gewisser Grad von Verbindung, wobei man sich nicht bloß aneinander anschließt, sondern auch so untereinander öffnet, daß alles in beiden Gefäßen bis zum horizontalen Stand zusammen fließt. Er war ein Mann von den größten Fähigkeiten, und einem Scharfsinn, der zu seiner Zeit wohl in Göttingen seinesgleichen nicht hatte. Mathematischer Kalkül war deswegen nicht das was Reize für ihn hatte, er dachte sehr gering davon und auch von den Leuten, die ihren Ruhm nur bloß deswegen darin suchen, weil sie zu jedem Urteilskraft anstrengenderen Geschäfte untüchtig sind. Schriftstellerischen Stolz hatte er gar nicht. Er hätte sonst gewiß leicht alle seine Herrn Kollegen übertroffen. Ganz gekannt hat ihn indessen die Welt gar nicht, auch seinem Charakter nach. Es ist gar sonderbar wie viel der vernünftigste und rechtschaffenste Mann nötig hat nicht mit dem Mikroskop betrachtet zu werden. Ich möchte wohl zuweilen wissen, wo alles das hinaus will, und wo man die Linie zu ziehn hat. Das Mädchen im Stand der Natur paart sich willig mit dem Manne, der Stärke und Gesundheit und Tätigkeit verrät. Nach der Hand findet sie daß sein Odem nicht der reinste ist, daß er ihr wirklich nicht immer Gnüge leistet u.s.w. So geht es überall. Meister war ein höchst feiner und scharfsinniger Kopf und wirklich ein großer Mann, von unerschütterlicher Rechtschaffenheit im Handel und Wandel, und doch hat er solche unzählige Schwachheiten, wo man ihn ganz sah. Hierüber künftig mehr.

Lichtenberg: Sudelbücher - Heft J 1